Schmerzfrei durch Biokinematik (Teil II) – geschrieben für die österreichische Zeitschrift Pulsar von Ilona Kunzelmann (Ärztin) und Dirk Ohlsen (Heilpraktiker)

Körperliche Flexibilität steigern und der muskulären Einsteifung vorbeugen.

Über die Therapieform der Biokinematik nach Walter Packi wurde in der Zeitschrift Pulsar bereits mehrfach berichtet. In einer neuen Serie berichten die Therapeuten Ilona Kunzelmann und Dirk Ohlsen über ihre jahrelangen Erfahrungen mit der Methode und werden unseren Lesern die Behandlung bestimmter Schmerzerkrankungen erläutern.

Dieser Artikel widmet sich Schmerzen im Bereich des unteren Rückens und dem Bandscheibenvorfall:

Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk der Natur. Billionen Zellen mit jeweils unzählbaren Stoffwechselvorgängen werden im Regelfall perfekt gesteuert und erhalten die Gesundheit. Wie kann es daher sein, dass Millionen von Menschen unter chronischen Schmerzen leiden, die unter bisheriger Therapie oft jahrzehntelang bestehen bleiben und sich im Alter häufig noch verstärken? Hat die Fehlinterpretation der wirklichen Ursachen zu einer Vielzahl von nicht zielführenden Therapien geführt? Statistisch wächst der Anteil von Menschen mit chronischen Schmerzen immer weiter und führt zu Krankheitskosten im Milliardenbereich.

Im ersten Teil dieser Serie haben wir darauf hingewiesen, dass Schmerz biologisch sinnvoll ist und in einer Vielzahl der Fälle auf eine Fehlstatik bzw. Fehlfunktion der Muskulatur hinweist. Nun werden wir diese Feststellung am konkreten Beispiel einiger typischer Rückenschmerzen erläutern, unter denen Millionen von Menschen chronisch leiden:

Hexenschuss

Unter einem Hexenschuss versteht man einen akut eintretenden Schmerz im Bereich des Rückens verbunden mit einer Bewegungsblockade, die das Aufrichten, Stehen und Gehen beeinträchtigt. Häufig wird das Ereignis durch eine unvermittelte Bewegung beim Drehen, Bücken oder Heben ausgelöst.

Als Ursache des Schmerzes werden medizinisch häufig Nervenirritationen (z.B. Ischiasnerv) oder zu schwache Rückenmuskeln angenommen. Im Regelfall wird eine Vorbeugeposition des Oberkörpers als schmerzlindernd empfunden – eine Aufrichtung oder Rückneigung meist schmerzverstärkend. Als Standardtherapie werden Schmerzmittel und körperliche Schonung verordnet. Dies ist eine Möglichkeit, wieder schmerzfrei zu werden. Eine derartige Therapie ist jedoch lediglich symptomatisch und so kommt es bei den meisten Menschen zu immer wiederkehrenden Hexenschüssen mit zunehmender Häufigkeit.

Sichtweise der Biokinematik:

Aus biokinematischer Sicht ist der einfache Hexenschuss einer der am Leichtesten zu behandelnden Schmerzen. Die Ursache liegt in einer akuten Verspannung der vorderen Bauch- und Beckenmuskulatur, die die Bewegung blockiert und somit das Aufrichten verhindert. Die aktive Zusammenarbeit dieser Muskeln mit ihren jeweiligen funktionellen Gegenspielern ist hierbei gestört. Die Ursachen sind heutzutage vor allem in einseitigen (Sitz-)Tätigkeiten, schlechten Gewohnheiten, aber auch in Unfällen und äußeren Eingriffen, wie Operationen, zu suchen. So verspannen und verkürzen sich Muskeln. Ausdruck dieser Fehlfunktionen sind unter anderem Schmerzen. Wichtig ist das Verständnis, dass der Schmerz nicht im funktionsgestörten Muskelbereich auftritt.

Grundsätzlich sehen wir den Schmerz als „Warnsignal“ an, der auf eine Störung in der Bewegungsfähigkeit hinweisen möchte. Hierbei wird der Schmerz durch das Körperbewusstsein in den Körperbereich „projiziert“, der logisch am sinnvollsten ist – in diesem Fall in den unteren Rücken.

Bei vielen Menschen haben der vordere gerade Bauchmuskel und die vordere tiefe Beckenmuskulatur aufgrund sitzender Tätigkeit eine zu hohe Grundspannung bzw. Verkürzung. Falls dann eine Belastung wie das Anheben einer Last hinzukommt, neigen die meisten Menschen dazu, unwillkürlich den Bauchmuskel (Spieler) mit anzuspannen. Doch genau dieser müsste in dieser Situation, in der die Rücken- und Gesäßmuskeln (Gegenspieler) sich verkürzen, locker sein und sich verlängern. Verkrampft sich nun der Bauchmuskel, projiziert das Körper-Bewusstsein augenblicklich einen Schmerz in den Bereich des Rückens – um die Bewegung zu stoppen. Der Schmerz auf der Rückenseite ist hierbei die logisch sinnvollste Stelle, um eine mögliche Verletzung des verkrampften Bauchmuskels zu verhindern. Die Kenntnis dieses bahnbrechenden Zusammenhangs ermöglicht eine einfache und effiziente Behandlung. Einerseits löst man manual-therapeutisch den verkrampften Bauchmuskel an seinem Ansatz und in einem zweiten Schritt hilft man dem betroffenen Menschen mittels spezieller, biokinematischer Übungen, den Bauchmuskel wieder ausreichend beweglich und funktionsfähig zu machen. Im Regelfall lässt sich so der akute Hexenschuss auf diese Weise ohne Medikamente innerhalb von Minuten lindern oder beheben – für den Patienten oft ein regelrechtes Wunder. Das wichtige Umtrainieren des Muskels selbst – um das Grundproblem der muskulären Funktionsstörung dauerhaft zu beseitigen – nimmt dann noch einige Wochen in Anspruch. Ein Hexenschuss sollte als Warnung des Körpers aufgefasst werden, dass mit der Funktionsfähigkeit der Muskeln etwas in bereits größerem Ausmaß nicht in Ordnung ist. Kleinere Störungen machen sich im Regelfall erst als Grobmotorik und im Gangbild bemerkbar.

Von den üblicherweise empfohlenen Kräftigungs- und/oder Dehnungsprogrammen( Rückenschule) raten wir ab, da diese mit dem Ziel der Stabilisierung rein über die Kraft arbeiten, was bei schon funktionseingeschränkter Muskulatur zu noch mehr Verspannung und Verkürzung führen wird. Diese Tatsache lässt sich in der Praxis mittels einiger Muskelfunktionstests leicht beweisen. Ein unzureichendes Körperfitness-Verständnis erklärt zudem, warum immer mehr jüngere Menschen von Rückenschmerzen geplagt werden.

Bandscheibenvorfall

Bei dieser Erkrankung wird die Bandscheibe im Bereich der Lendenwirbelsäule immer weiter rückseitig verlagert und es kommt zuweilen zu Einrissen des äußeren Faserringes. Hierdurch kann eine gallertartige Flüssigkeit aus dem Inneren der Bandscheibe austreten. Dieser Austritt wird je nach Ausmaß als Vorwölbung oder Vorfall bezeichnet. Nach aktueller Lehrmeinung gilt immer noch, dass dieser „Vorfall“ Druck auf den Nerven ausüben und ihn irritieren bzw. entzünden würde. Dies wird als Grund für Rückenschmerzen oder Ausstrahlungen ins Bein im Sinne von Schmerzen, Missempfindungen oder auch Kraftverlust gesehen.

Sichtweise der Biokinematik:

Der Bandscheibenvorfall wird vereinfacht betrachtet durch die zu hohen muskulären Zugkräfte auf der Vorderseite des Körpers – insbesondere durch die tiefe Becken- und Lendenmuskulatur – ausgelöst. Die Bandscheibe ist Leidtragende und lediglich ein Symptom dieser Fehlkräfte im Körper. Sie kann mittels bildgebender Verfahren sichtbar gemacht werden, aber Schmerzen und auch andere Erscheinungen wie Missempfindungen oder muskuläre Schwäche sind nicht auf Bandscheibenveränderungen zurückzuführen.

Es besteht allenfalls eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass bei hohen Muskelspannungen über Jahre hinweg die Bandscheibe irgendwann in Mitleidenschaft gezogen wird. Je nach Ausmaß und Ort der Störung der Körperbalance können Schmerzen im Rücken, Gesäß oder Bein auftreten. Typischerweise sind hierbei die verursachenden Muskeln bei Rückenschmerzen auf der Vorderseite zu suchen. Diese werden biokinematisch prinzipiell analog der o.g. Therapie des Hexenschusses behandelt, sind aber meist in größerem Ausmaß gestört. Daher ist die Behandlung oft länger und komplexer, insbesondere falls Kribbeln, Taubheit oder Kraftverlust zusätzlich auftreten. Ziel ist es die natürlichen Bewegungsabläufe des Körpers wieder herzustellen. Für einen Patienten ist meist sehr überraschend, dass eine Behandlung auf der Körpervorderseite das Problem dauerhaft zum Verschwinden bringt. Sieht man allerdings den sitzenden Alltag der meisten Menschen als Hintergrund, werden die muskulären Störungen auf der Vorderseite einleuchtend.

Aus der Praxiserfahrung heraus kann die Schmerzsymptomatik oft direkt innerhalb der Therapiesitzung beeinflusst und gelindert werden. Dies zeigt dem Betroffenen auf, dass seine Symptomatik nichts mit Entzündung oder Nervenschädigung zu tun hat, da Sie auf Veränderung der Muskelspannung anspricht und somit mit der Bewegungsgeometrie des Körpers zusammenhängt. Damit kann auch der Widerspruch bezüglich Diagnosestellung und Interpretation der Medizinwissenschaft und tatsächlicher Ursache deutlich gemacht werden.

Durch eine wieder gewonnene Bewegungsfreiheit kann sich ein Bandscheibenvorfall vollkommen zurückbilden. Der Autor hat dies selbst im Jahr 2002 innerhalb von drei Monaten mit einem – von diversen Neurochirurgen als dringend operationspflichtig eingestuften – Bandscheibenvorfall (L4/L5) umsetzen können, der binnen Wochen radiologisch nicht mehr nachweisbar war. Durch den Kontakt mit dem Therapiekonzept der Biokinematik sind seit dieser Zeit nie wieder Rückenschmerzen aufgetreten und Sport ist uneingeschränkt durchführbar. Daher erscheint es wünschenswert, wenn viele Menschen durch eine Förderung der Beweglichkeit und der Muskelfunktion derartigen Beschwerden wirksam die Grundlage entziehen. So wären viele Medikamente und Operationen mit zweifelhaftem Nutzen vermeidbar. Denn oftmals werden derartige Interventionen dem biologischen Wunderwerk des Körpers nicht wirklich gerecht und nutzen die Selbstheilungskräfte nicht im gewünschten Maße.