Die Belastung von Gelenken

 

Man hört oft Aussagen in Büchern, Medien oder von Ärzten, dass die Gelenke eine große Last tragen würden. Hier werden dann vor allem die Kniegelenke, aber auch die Wirbelgelenke erwähnt – also diejenigen Gelenke, die nach der Vorstellung vieler Menschen eine Last tragen müssen.

Ich teile diese Auffassung von „Belastung“ nicht. Der menschliche Körper ist von ungleich größerer Perfektion als es die derzeitige Ingenieurskunst bislang hervorgebracht hat. Daher ist es sinnvoll, im Bereich der Technik von der Natur abzuschauen und dies dann zu kopieren, sofern möglich.

Durch „Zufall“ bin ich auf ein Unterrichtsprojekt für die Sekundarstufe II gestoßen, welches mir die Möglichkeit bietet, meine Sichtweise von belastungsfreien Bewegungen faszinierend anschaulich zu untermauern. So kann man einen komplexen Sachverhalt einfach verständlich machen.

 

http://www.science-on-stage.de/download_unterrichtsmaterial/2007_Spannung_Bach_Holger_Tensegrity_DE.pdf

(Aus meiner Sicht lohnt sich das Lesen/Überfliegen des ganzen Artikels)

Auf der fünften Seite wird ein Holzmodell gezeigt, welches die menschliche Wirbelsäule nachbildet.
Ohne dass die Wirbel sich berühren, alleine durch nachgebildete Band und Muskelstrukturen ist die gesamte Konstruktion frei tragend. Sehr vereinfacht im Vergleich zu den vielen Muskelfasern, die der Mensch besitzt, aber zur Veranschaulichung vor allem für medizinische Laien faszinierend und irgendwie kaum vorstellbar, dass es sich wirklich frei trägt.

Noch bemerkenswerter finde ich diese Sätze (Unterlagen aus 2007):

Ergebnis: Das Wirbelsäulenmodell ist tragstabil und gleichzeitig beweglich; zwischen den Wirbeln, wo sich normaler Weise die Bandscheiben befinden, ist ein Abstand von mehreren Millimetern.

Konsequenzen: Aus diesen Ergebnissen ergeben sich erhebliche medizinische Konsequenzen für die Ursachen und die Therapie von Rückenschmerzen…

Ich frage mich, warum derartige Erkenntnisse von der Orthopädie bislang weitgehend ignoriert werden?

In der Tat ist die Erkenntnis, dass auf die Bandscheiben kein Druck wirken muss und die Wirbelsäule alleine durch Bänder und Muskeln in sich tragfähig ist, von entscheidender Bedeutung bei der Therapie zahlreicher orthopädischer Erkrankungen und vor allem chronischer Schmerzen. Auch wenn die Bandscheibe wichtige Funktionen hat – sie ist kein Stoßdämpfer (es gibt sie auch bei Fischen in der Schwerelosigkeit) und bei Schmerzen im Rücken ist sie nicht die Ursache.

Das Prinzip der weitgehenden Druckfreiheit gilt bei allen Gelenken des Menschen (sowie Tieren): Die Kräfte werden vor allem um das Gelenk herum geleitet und innerhalb des Gelenkes wirken an den Knorpelflächen der Knochen punktuell jeweils nur sehr geringe Kräfte. Einfacher Beweis: Der Knorpel ist so weich, dass man ihn mit dem Fingernagel einritzen kann. Würden hier wirklich Kräfte wirken, beispielsweise 50 kg Gewicht im Kniegelenk, dann wäre der Knorpel nach wenigen Sekunden zerstört. Zudem gibt es auch keinen Abrieb, wie wir ihn aus der technischen Mechanik kennen.

Ein derartiges System, dass auch in der Osteopathie-Lehre seit wenigen Jahren bekannt ist und dort auch mit Tensegrity bezeichnet wird, ist extrem stabil und nur extrem schwer zu zerstören. Hierbei hängt die Stabilität des Gesamtsystems aber extrem von der Funktionsfähigkeit der jeweiligen Einzelkomponenten ab, die alle ihren Anteil am Funktionieren des Gesamtsystems haben. In dem o.g. einfachen Holzmodell würde alles zusammenbrechen, wenn nur ein einziges Gummiband (Muskel) durchtrennt würde. Im menschlichen Körper übernimmt allerdings eine Vielzahl von einzelnen Knochen (Kompressionskomponenten), Bändern und Muskelfaserbündeln (Zugkomponenten) diese Funktion, so dass kleinere Störungen oder Verletzungen ohne große Auswirkungen auf das Gesamtsystem bleiben.

Die Komplexität des Körpers lässt sich modellhaft nicht abbilden. Doch wenn hier ein größerer Teil, beispielsweise durch jahrelange einseitige Tätigkeiten eine Überspannung oder Unbeweglichkeit aufweist, dann kann eine komplette Beweglichkeit ausfallen – teilweise aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten innerhalb des System auch über weite Strecken entfernt. In der Regel sind die Störungen nicht im Bereich der Knochen, Knorpel oder Bändern zu suchen (die Domäne der Orthopädie) sondern stattdessen in den bewegenden Teilen (Muskeln/Sehnen/Faszien) – diese werden aus ärztlicher Sicht viel zu sehr unterbewertet. Von daher ist es schön, dass die Osteopathie-Lehre seit wenigen Wochen ihren ersten Lehrstuhl in Deutschland bekommen hat.

Konkret kann beispielsweise eine muskuläre Störung im Bereich des Brustbeines die Finger taub machen und ein Karpaltunnelsyndrom vortäuschen. Einfache Ursache, aber oftmals falsch therapiert, weil man nur das Symptom behandelt. Oder ein „einfacher“ Krampf der Bauchmuskulatur kann einen Hexenschuss verursachen, bei dem man sich innerhalb von Sekunden nicht mehr bewegen kann. Das Tensegrity Konzept ist ein leicht verstehbares „Modell“, warum Ursache und Störung oft in unterschiedlichen Köperarealen anzutreffen sind. Sehr häufig sind hier „vorne/hinten“ und „innen/außen“ therapeutisch wichtig.

Ich bin sicher, dass mit einer funktionellen Sichtweise und adäquater Therapie der menschlichen Bewegung/Beweglichkeit/Muskelfunktion ein Großteil der orthopädischen Operationen vermeidbar wäre. Hierbei sind die Beweglichkeitsübungen der Biokinematik aus meiner Sicht immer noch den Übungskonzepten anderer Disziplinen oftmals überlegen – aber leider bislang nur wenigen Therapeuten bekannt. An meinem Körper habe ich über einige Jahre vieles ausprobiert und bis heute kein besseres Beweglichkeitskonzept im Sinne eines Trainings kennengelernt. Weitere Ausführungen hierzu möchte ich mir an dieser Stelle sparen und verweise ggfs. auf mein Buch „Ganzheitliche Heilkunde für Körper, Geist und Seele“.

In der Praxis treffe ich oft auch auf Menschen, denen eine OP angeraten worden war und welche diese am Ende durch ein aktives Umtrainieren der Muskulatur vermeiden konnten. Oft einfach, aber im Einzelfall auch durch ein anstrengendes Training über viele Monate hinweg. Die Beweglichkeit und Funktionsfähigkeit des Bewegungsapparates wiederherzustellen lohnt sich aber immer und zahlt sich später im höheren Alter richtig aus. Zudem kann eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen auch emotionale Gründe haben und dann wäre eine Operation oft auch fehl am Platze.

Auf die Fragwürdigkeit vieler orthopädischer Operationen hat diese Woche auch der Verband der Krankenkassen hingewiesen:

http://www.welt.de/wirtschaft/article106394343/Kliniken-behandeln-oft-nur-um-Geld-zu-verdienen.html

 

Ich kann die Argumente sehr gut nachvollziehen – wie so oft gilt auch hier der Satz „Folge der Spur des Geldes….“ – viele orthopädische Operationen bauen auf der falschen Kausalität auf und werden dann noch zusätzlich manchmal vorschnell (aus Sicht der Orthopädie-Lehre) verordnet. Daher sollte man doppelt wachsam sein. Gerade junge Menschen werden gerne operiert, weil die Komplikationsrate i.d.R. gering ist und man mittels Fallpauschale als Klinik einen höheren Deckungsbeitrag erwirtschaften kann.