Grundsätzliches über die Muskulatur, Bindegewebe, Muskelketten und Faszien.
Wichtig in der Schmerztherapie und für die Gesunderhaltung / Fitness.
Irrtümer und therapeutische Konsequenzen bezüglich Dehnen und Stretching – Diese Informationen sind eher wissenschaftlicher Natur und mehr an Therapeuten adressiert. Sie zeigen deutlich, dass schon lange Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Dehnungsübungen bestehen, obwohl sie wohl vor allem aus Marketinggründen und dem Wunsch nach einfachen Lösungen leider immer noch sehr verbreitet angewendet werden.
Eine differenzierte Analyse auf Grundlage neurophysiologischer, funktioneller und struktureller Erkenntnisse
1. Einleitung: Das Missverständnis „Dehnen“
Dehnen gilt im Sport, in Training, Reha und Therapie seit Jahrzehnten als Mittel der Wahl – sei es zur Verletzungsprävention, Verbesserung der Beweglichkeit, Reduktion von Muskelverspannungen oder zur Tonussenkung. Doch viele dieser Annahmen halten aktuellen physiologischen Erkenntnissen nicht stand.
Wissenschaftliche Studien und klinische Beobachtungen zeigen, dass Dehnungseffekte nicht primär über Strukturveränderungen, sondern über neurophysiologische Reizverarbeitung, subjektive Empfindung und zentrale Steuerprozesse vermittelt werden.
2. Grundlagen: Was ein Muskel kann – und nicht kann
Ein Muskel ist kein autonom handelndes Organ, sondern immer eingebunden in ein neuro-myo-fasziales System.
- Kontraktion ist nur durch Erregung eines Alpha-Motoneurons möglich.
- Die Lösung der Querbrückenverbindungen (Aktin-Myosin) erfolgt ausschließlich, wenn ATP zur Verfügung steht.
- Eine „passive“ Verlängerung kann die Querbrücken nicht lösen, sondern erhöht häufig den Tonus durch Schutzreflexe.
Der Gammatonus, gesteuert durch das Zentrale Nervensystem (ZNS), reguliert die Erregbarkeit der Muskelspindel. Bei Belastung, Schmerz oder Stress ist dieser Tonus erhöht – z. B. bei Spannungskopfschmerzen über den M. trapezius pars descendens.
📖 Thews/Mutschler/Vaupel (2022); Brokmeier (1996)
3. Reflexmechanismen: Warum Dehnung / Stretching den Tonus steigert
Eigenreflexe:
- Ia-Fasern (Muskelspindel) reagieren auf jede Dehnung (statisch wie dynamisch) → Monosynaptische Erregung des Alpha-Motoneurons.
- Das Ergebnis: Eine Tonussteigerung, nicht die gewünschte Relaxation.
Golgi-Sehnenorgane (Ib-Fasern):
- Arbeiten hemmend → aber erst bei sehr größerer Spannungsbelastung (von 100–700 Gramm).
- Im therapeutischen Dehnen sollten passive Zugkräfte diese Schwelle niemals erreichen, sonst kontraproduktiv. Bei dynamischen Dehnungskonzepten oder Engpassdehnungen werden erfahrungsgemäß diese Grenzen überschritten, beispielsweise bei Schmerzpatienten oder Leistungssportlern aus Ehrgeiz .
Gamma-Schleife:
- Regelt die „Bereitschaft“ der Muskulatur zur Reaktion.
- Bei Stress durch ZNS-Aktivierung verstärkt → erhöht wird der Tonus dann zentral.
- Entspannung kann diese Schleife günstig beeinflussen – Dehnung wirkt eher selten.
📖 Hutton (1984); Thews/Vaupel; Hagbarth et al. (1984); Wiemann et al. (1998)
4. Begriffsklärung: Was heißt „Verkürzung“ wirklich?
Der Begriff Muskelverkürzung ist irreführend. Es muss klar unterschieden werden zwischen:
Typ | Ursache | Reaktion auf Dehnen |
Morphologische Verkürzung | Immobilisation → Sarkomerabbau | Unterliegt struktureller Anpassung, reagiert nur auf funktionelles Training |
Reflektorische „Verkürzung“ | Schutzspannung, Gelenkdysbalance, Stress | Erhöhte Alpha-Motoneuron-Aktivität – reagiert nicht auf Dehnung |
Verkürzungsgefühl / Fehlwahrnehmung | Zentral gesteuert, z. B. nach einseitiger Belastung oder Schmerzen | Nur über zentrale Reizverarbeitung veränderbar |
📖 Brokmeier (1996); Wiemann (1998); Tabary et al. (1972); Goldspink (1984)
5. Die Wirkung von Stretching – was sagen die Daten?
✅ Eindeutig nachgewiesen:
- Steigerung der Bewegungsreichweite (ROM)
→ Verbesserung um 5–25 %, v. a. über Toleranzsteigerung, nicht durch strukturelle Veränderung. Hierdurch steigt das potentielle Verletzungsrisiko und Schutzmechanismen des Körpers werden “überlistet”. Da ist sicher nicht sinnvoll.
❌ Nicht nachgewiesen / widerlegt:
- Senkung des Muskeltonus
- Verkürzungsbeseitigung durch passive Dehnung
- Leistungssteigerung oder Verletzungsprophylaxe
- Veränderung der Muskellänge durch kurzes Dehnen
📊 Langzeitstudien zeigen:
- Ruhespannung bleibt stabil.
- Sarkomeranzahl verändert sich nur bei Immobilisation in Dehnposition (Tabary et al., 1972).
- Subjektiv empfundene „Entspannung“ = ZNS/Ursache, nicht muskuläre Entspannung (Wiemann, 1991; Freiwald et al., 1999).
6. Postisometrische Relaxation – therapeutischer Mythos?
Die so genannte „postisometrische Relaxation (PIR)” wird oft mit Sherrington in Verbindung gebracht. Tatsächlich beschrieb Sherrington lediglich reziproke Innervation und kurzfristige Erregungspausen von 20–30 ms – nicht therapeutisch nutzbar.
Kontraktion vor Dehnung (PIR), z. B. bei Muskelketten- oder Triggerpunktbehandlung, erhöht zunächst den Energiebedarf und führt zur lokalen Ischämie. Nachfolgende Mehrdurchblutung (Superkompensation) könnte erklären, warum sich Patienten „entspannter“ fühlen – aber das ist kein Nachweis einer funktionellen Tonussenkung.
📖 Freiwald et al. (1999); Sherrington (1906); Thews/Mutschler/Vaupel (2022)
7. Muskelstruktur und Elastizität – was passiert „in der Tiefe“?
Ruhespannung & viskoelastische Elemente
- Connectinfilamente und Kollagenstrukturen sind Hauptträger passiver Dehnspannung.
- Kollagen ist nicht elastisch, sondern gibt nur bis ca. 1/6 seiner Länge nach (Fibrillenabflachung).
- Elastizität im Rücken kehrt bei gesunden Muskeln vollständig zurück – kein Dehnverlust!
📖 Magid & Law (1985); Williams & Goldspink (1984)
8. Stretchingmethoden – kurz kompakt bewertet
Methode | Ziel | Wirksamkeit |
Statisches Stretching (SS) | Reichweite erhöhen | Kurzfristig wirksam |
Kontraktion-Relaxation (KR) | Tonus senken → fraglich | Kein Nachweis für neuronale Relaxation |
Antagonisten-Kontraktion (AK) | Antagonistische Hemmung nutzen | Wirksam, v. a. funktionell |
Ballistisches Stretching | Schnellkraft verbessern | Effektiv, aber potentiell risikoreich |
📖 Wydra et al. (1991); Etnyre & Lee (1988); Moore & Hutton (1980); Brokmeier (1996)
9. Stretching vor und nach dem Sport – sinnvoll?
❌ Dehnen vor der Belastung:
- Reduziert kurzfristig die Leistungsfähigkeit der schnellen Fasern
- Stört Koordination und erhöht Verletzungsgefahr (z. B. durch Energieverlust)
❌ Dehnen nach dem Training:
- Beeinträchtigt Regeneration
- Querbrücken können bei Energiemangel nicht gelöst werden
- Abtransport von Metaboliten nicht verbessert
✅ Besser:
- Aktives Abwärmen (z. B. lockeres Auslaufen)
- Manuelle Techniken (z. B. Lymphdrainage)
- Bewegungsbasierte Regeneration, keine isolierte Dehnung
📖 High et al.; Buroker & Schwane (1991); Wiemann (1998)
10. Therapieansatz nach physiologischen Prinzipien
Wenn ein Muskel „verkürzt“ oder „verspannt“ ist, sollte jede Maßnahme sich an der Ursache orientieren:
Fragen:
- Ist die Spannung neurologisch reflektorisch? (z. B. Schutztonus bei Instabilität)
- Liegt ein strukturelles Defizit vor (Immobilisation)?
- Liegt eine zentrale Dysregulation vor (z. B. Stress, Gamma-Tonus hoch)?
✅ Therapeutisch sinnvoll:
- Exzentrisches Training (Sarkomervermehrung)
- Oszillierende Impulse (z. B. Vibration)
- Bewegung entlang funktioneller Ketten
- Reziproke Innervation durch funktionell eingesetzte Bewegung
❌ Wenig sinnvoll:
- Langes statisches Dehnen ohne Systembezug
- „Verlegenheitsdehnen“ ohne Diagnostik
- Dehnen gegen Schutzmechanismen (z. B. bei ISG-Dysfunktion)
- Dynamisches Dehnen aufgrund von “Zerrungsrisiken” durch unkrontrollierte Bewegung
11. Fazit (von Dirk Ohlsen ergänzt)
Muskeldehnen ist sinnlos und universell wenig hilfreich. Seine Wirkung besteht nicht in der mechanischen „Längevermehrung“ im Sinne einer Sarkomeraddition in Länge, sondern vielmehr in einer temporären Erhöhung der Dehntoleranz und ggf. Verbesserung des Bewegungsempfindens. Das umgeht wirksame Schutzmechanismen im Körper und kann Spannungslinien hervorrufen, welche die Erklärung für neuro-muskuläre Schmerzen sind. Man kann es mit dem Mechanismus einer “Zerrung”oder “Dehnüberlastung” vergleichen.
Nur wenn Dehnmaßnahmen funktionell sinnvoll eingesetzt werden und die physiologische Realität der Muskelsteuerung berücksichtigt wird, können beispielsweise “Durchbewegen des Körpers / sich recken und strecken / körperbewusste Yoga Asanas” unterstützende Bestandteile in Therapie und Training sein. Oft wird Dehnen zu “forsch” betrieben oder als ein Ersatz für Diagnostik eingesetzt – es kann zu Spannunglinien und Zerrungen führen und damit therapeutisch problematisch. Die Grenze zwischen Dehnen und Zerren ist gerade bei Menschen mit früheren Unfallverletzungen sehr klein. Schon ein wenig zuviel dehnen ist pathologisch und kann den Körper schädigen. Um diesen Gefahren aus dem Weg zu gehen, wird in der Biokinematik niemals gedehnt, sondern ausschliesslich auf Muskellängentraining gesetzt. Meine Praxis ist voll mit Patienten, die sich mit Selbsttherapie aus dem Internet oder Büchern über Dehnungskonzepte geschädigt haben bzw. ihre Schmerzen und Probleme so verstärkt wurden.
📖 Literatur (Auswahl, bitte selbst recherchieren und zu Erkenntnissen gelangen)
- Sherrington, C. (1906): Integrative Action of the Nervous System
- Tabary, J.C. et al. (1972): Sarkomeranpassung
- Goldspink, G. (1984): Muskelfaserveränderung durch Immobilisation
- Hutton, R.S. (1984), Moore & Hutton (1980), Etnyre & Lee (1988
- Wiemann, K. (1991): Dehnungstraining – Sportwiss.
- Wydra, G. et al. (1991): Effektivität von Dehntechniken
- Brokmeier, A. (1996): Manuelle Therapie
- Thews, Mutschler, Vaupel (2022): Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie